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Die Wand

Er träumte von ihr. Seit Stunden schon lag er wach und starrte an die vertrauten Konturen seiner Zimmerdecke. Aber er sah weder die Wellen und Kämme mit denen sich das Stroh-Lehm-Gemisch an den Balken festklammerte, noch die traurig ausgefranste Tapete, mit der er versucht hatte, ihm Ebenmaß zu verleihen. Es war nicht wichtig.

Wichtig war sie. Seine Königin. Klein und unbedeutend im Vergleich zu den anderen. Von denen er auch träumte und die er zu erobern trachtete, später. Irgendwann. Aber noch galt all sein Sehnen ihr.

Glatt und makellos erhob sie sich vor seinem geistigen Auge, meinte er sie unter seinen Fingerspitzen zu fühlen. Seine Hände schlossen sich im Reflex und sandten neben einem sachten „pluff“ und dem wohlig daunenweichen Gefühl seiner Bettdecke auch einen Hauch nach Frühlingsduft in den eisigen Atem der Nacht vor seinem Gesicht.

Mutter hat das Bett neu bezogen, dachte er vage. Als ob ich ein kleines Kind wäre.

Rebellisch warf er die Decke von sich, nur um sie Sekunden später fröstelnd wieder über seinen Oberkörper zu ziehen. Im Zimmer war es lausig kalt.

Eine Weile lag er still in seinem warmen Nest, gefeit vor dem Frost der Winternacht. Träge bewegte er Füße und Zehen im Takt mit dem überlauten Ticken der Uhr aus der Küche auf der anderen Seite des kleinen Flures. Nicht einmal die Tür dazwischen konnte dem steten Vertropfen der Zeit Einhalt gebieten. Und doch musste er eingeschlafen sein. Eigentümliche Helle drang wattig sanft durch das winzige Fenster und schälte die Konturen der wenigen Möbel aus der Dunkelheit. Einen Augenblick fürchtete er, verschlafen zu haben, nahm er die Helligkeit als Zeichen des beginnenden Tages und richtete sich auf. Noch nicht, signalisierten die schwach schimmernden Zeiger des uralten Weckers auf seinem Nachttisch. Nicht Tag, nur Schnee.

Seufzend ließ er sich in das Kissen zurückfallen und wandte sich wieder seinen Träumen zu.

Ihr.

Die frostige Stille seiner Kammer wich einem leichten Frühlingswind, dem Rauschen der Kiefern und der Schwingen der Raben über seinem Kopf. In ihr heiseres Schreien, das in seinen Gedanken widerhallte, mischte sich das Gefühl von ihr unter seinen Fingerspitzen, manchmal kühl, manchmal sonnenwarm, aber immer glatt und fast seidig.

Wieder seufzte er.

Sie war nicht groß. Sie war nicht bekannt, nicht berühmt und nicht berüchtigt. Sie war nicht die Nordwand des Eigers, nicht die Watzmann-Ostwand, nicht El Capitan, nicht die Diamir- oder die Rupalflanke, nicht die schieren Fels- und Eiswände der Torres del Paine.

Sie war unvergleichbar mehr. Sie war sein. Sie würde die Seine sein.

Aber sie war verboten.

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